Ein 38 Jahre alter Jahreswagen ! Darf man diesem 240 D W123 mit nur 21700 Kilometern trauen ?
Am Liebsten besichtige ich einen alten Benz inkognito. Also einfach zum Händler fahren, und Auto als Interessent anschauen, obgleich ich gar keine Kaufabsicht habe. Dieses Prinzip hat ja schon oft gut funktioniert, doch bei diesem Fahrzeug konnte dieser Plan nicht gut gehen.
Am Anfang der Geschichte steht ein Youtube Clip, in dem ein Mercedes W123 240 D präsentiert wird, der einen Kilometerstand von lediglich 21700 Km aufweisen soll. Bitteschön wer kauft im Jahr 1984 einen sparsamen, langlebigen Kilometerabreißer und fährt dann in 38 Jahren lediglich 21700 davon ?
Als Mercedes Young – und Oldtimerblogger war der Sherlock Holmes in mir geweckt und ich begab mich inkognito auf Spurensuche und plante eine Gegenbeweisaufnahme.
Normalerweise erwartet mich, speziell bei den gewerblichen Angeboten, ein wortkarger, missmutiger und übel gelaunter Verkäufer, dessen Ware unter freiem Himmel feil geboten wird. Also in die Verkaufsbude rein, nach dem Schlüssel fragen und Auto besichtigen. Mit dem Handy heimlich ein paar Bilder schießen, evtl. eine Proberunde drehen und dann das Angebot in meinem Artikel filetieren.
Da war der S123 280 TE der bis heute als Sinnbild für das gilt, was man nicht kaufen darf. Das einstmals teuerste Touristik und Transport /Angebot aus Bremischer Fertigung war am Ende aller Tage angelangt und konnte eigentlich nur noch als Organspender dienlich sein.
Dann war da noch der W123 200 D, der das Prädikat oben Hui und unten pfui erhielt. Eine dieselnde W126 S Klasse, die vom Schimmel heimgesucht wurde und dessen Heckscheibenrahmen dank rostfraß dem Wagen das Lied vom Tod spielte.
Und und ? Was würde mich diesmal erwarten ? Grob teilte ich mal 21700 Kilometer durch 38 Jahre und stellte schnell fest, das wohl wirklich niemand einen W123 nur 800 Kilometer Auslauf per anno gönnen würde. Völlig, völlig unrealistisch ! Auf dem Weg ins Emsland kam oft der Gedanke, den M119 zu wenden und das Vorhaben der Besichtigung ad Adca zu legen. Aber die alte S Klasse lief halt grad so schön sonor und irgendwo am Zielort ließe sich auch noch eine Pommes Currywurst abgreifen und somit wird die Fahrzeugbesichtigung eher ein schöner, cruising day werden.
Doch weit, weit gefehlt ! Am Ziel angekommen standen zwar unter freiem Himmel jede Menge schöner alter Mercedes Young und Oldtimer, aber der 240 D W123 war nirgends zu sehen. An Stelle der erwarteten Verkaufsbude fand ich ein modernes Firmengebäude vor, in dem, nach eigenem Bekunden, eine Fachwerkstatt mit LEIDENSCHAFT für Old- & Youngtimer von Mercedes-Benz untergebracht ist.
Jetzt kehrt zu machen, hätte einerseits eine Strecke von 200 Kilometern sinnlos gefressen ohne ein einziges Bild im Kasten zu haben. Und für‘s Mittagsessen war es noch viel zu früh. Also ab durch das Werkstatttor in Richtung Büro und einfach mal fragen.
Ein wortkarger, missmutiger und übel gelaunter Verkäufer war auch nicht anzutreffen, sondern ein Mercedes Enthusiast, der seine Leidenschaft nicht verbergen konnte.
„Der W123 ? Ja der steht in der Nachbarhalle, kommen Sie mal mit“ – Ok wenn das Auto nicht unter dem Sternenhimmel im Freien lagern darf, sondern unter einer gesonderten Abdeckplane in einer trockenen Halle, und wenn der Verkäufer vom selben Benzschen Virus befallen zu sein scheint, welches auch mich heimgesucht hat, dann könnte es ja durchaus eine wahre Geschichte werden, eine kleine Sensation lag in der Luft !
Der erste Eindruck bei einer Gebrauchtwagenbesichtigung spielt sich ja bekannter Massen in den untiefen des Bauches ab. Und von dort grummelte es nur noch Whow ! Nach einer kurzen Vorglühphase erwachte der OM616 zu seinem typischen Kaltlaufnageln. Ich gehöre zu den Mercedes-Benz Fan‘s die so etwas nicht als Motorengeräusch wahr nehmen, sondern der Motorklang eines Vorkammer Mercedes Diesel ist eher ein Konzert. Dem kalten Dur folgt mit sich erwärmenden Grauguss eher ein Moll ! Wir stiegen zu um das kurze Stück zum eigentlichen Firmengelände zurück zulegen. Und dann passierte das, was dann passieren muss, wenn sich die Türen eines alten Mercedes Benz satt in die Zapfenschlösser legen. Willkommen zu Hause, willkommen im Jahre 1984 ! Seit gefühlt 35 Jahren habe ich diese Atmosphäre, die ein Mercedes Benz Jahreswagen ausstrahlt nicht mehr wahrgenommen !
Die Sitzbezüge, der Bodenteppich und die Türverkleidungen sind lebendige Zeitzeugen der Ausstattung STOFF – BLAU (052). So sah der originale Farbton aus. So gut wie kein Mercedes W123, speziell bei dieser Farbe, haben den UV-Strahlen der Jahre trotzen können. Auch das Armaturenbrett war bekanntermaßen blau eingefärbt und besonders diese Farben neigen zu frühzeitiger Rissbildung. Davon war hier nichts zu sehen, kein Verblassen der Stoffe, keine Risse im Armaturenbrett, keine faltigen Ränder der Türverkleidungen. Lediglich der Kleber der Zebranoleiste am Handschuhfach hat das Holz vom Aluminiumträger gelöst. Dieser kleine, vermeintliche Makel, spricht deutlich für die Authentizität, des gesamten Fahrzeugs. Hier wurde noch nichts kaschiert, geschminkt oder vertuscht.
In den Achtzigern Jahren des letzten Jahrhunderts, waren das Schiebedach (411) das Becker Radio AM/FM (515) die wesentlichen Merkmale einer extra zu ordernden Sonderausstattung. Aber der Käufer äußerte in der Hannoveraner Niederlassung noch einen weiteren, nicht gerade günstigen Wunsch ! Das Getriebe 722.4 sollte die lästige Arbeit beim Sortieren der Gänge übernehmen und der rechte Außenspiegel musste elektrisch verstellbar ausgeführt werden. Somit fand sich auch ein Kreuzchen unter dem Code 504 wieder.
Meinem Wunsch nach ausgiebiger Besichtigung, nebst der anwesenden Kamera wurde problemlos zugestimmt und so konnte ich den Wagen für fast zwei Stunden in jede Blechtasche, unter jede Türkante und jede Wagenheberaufnahme blicken, ohne das mir das erstrebte Haar in der Suppe begegnete. Aber da war ja noch der Fall des orangen 200 D, der bekanntlich obenrum glänzte, dessen Unterseite sich aber als grausam rostig und in allen Teilen als Verschlissen zeigte.
Modell 240 D Motornummer 616912 12 090889 Getriebe 722404 02 124363 Auftragsnummer 0 4 220 02176 Ort der Bestellung NDL – HANNOVER Innenausstattung STOFF – BLAU (052) Lack 1 DUNKELBLAU – UNILACK (904U) Baujahr 1984-08 SA-Code Beschreibung 411 SCHIEBEDACH MECHANISCH 420 GETRIEBE AUTOMATISCH 4-GANG 504 AUSSENSPIEGEL RECHTS ELEKTRISCH EINSTELLBAR (LL) 515 BECKER RADIO (AM/FM, USA) 550 ANHAENGEVORRICHTUNG | Ads/Werbung |
Darauf angesprochen wurde flux eine Hebebühne frei gemacht, der 240 D angehoben und seine Unterwelt frei gelegt. Auch unten drunter zeigt sich der W123 nahezu frei von Fehl und Tadel. Lediglich leichtes Öl-Schwitzen zeugt davon, dass alle Dichtungen auch schon 38 Jahre an Ort und Stelle verbracht haben. Rost ? Fehlanzeige im gesamten Unterbodenbereich.
Die Bereifung aus dem Jahr 1984 wirft nun die Frage auf, wie konnte dieses Exemplar die Jahrzehnte überleben, ohne viele hunderttausend Kilometer abgespult zu haben ? Ein sehr interessantes Dokument in der vollständig erhaltenden Bordmappe, ausgestellt am 30-September, vom spanischen Konsul in Hannover, gibt folgendes Preis:
yo, Andres C.R. traslado definitivvamente mi residencia a Espania y ilevo conmigo los siguientes objectos usados en mi hogar y de mi propiedad
oder frei mit Google übersetzt:
Ich, Andres C. R., verlege meinen Wohnsitz endgültig nach Spanien und bringe die folgenden Gegenstände mit, die in meinem Haus und meinem Eigentum verwendet werden
und dann wird ein Mercedes Benz W123 nebst Fahrgestell und Motornummer aufgeführt. Gezeichnet der spanische Generalkonsul zu Hannover.
Traurigerweise verstarb der Erstbesitzer kurz nach seinem Umzug nach Galicien und seine Frau brachte es nicht über ihr Herz den fast neuen Mercedes aus der Hand zu geben. Und so vergingen die Jahrzehnte und der W123 verlebte eine entspannte Zeit irgendwo in einer Garage, gut geschützt vor der heißen spanischen Sonne und völlig verschont von den üblen, salzig-feuchten Wintern im weit entfernten Hannover. Bis zu dem Tag, als der heutige Mercedesfachmann in seiner alten Heimat Galicien seinen Urlaub verbrachte. Wie es für einen echten Mercedes Enthusiasten nicht anders zu erwarten ist, ist Urlaub auch immer eine gute Gelegenheit Augen und Ohren offen zu halten für den einen oder anderen alten Benz, der in das Beuteschema passt. Ihm vertraute nun die Witwe den Benz an, den ein Spediteur fachgerecht ins Emsland verbrachte. Hätte er es auf eigener Achse gewagt ? Gewagt ja , aber jeder weitere Kilometer ist für diesen W123 eigentlich einer zu viel.
Und damit drängt sich die Frage auf, für wen wäre dieser 240 D eigentlich geeignet ? Rollte Mercedes Benz nicht von jeder Baureihe ein paar Exemplare in das hauseigene Museum, dann wäre das eine Möglichkeit gewesen. Dieses Auto ist definitiv zum täglichen Fahren viel zu schade. Dieser Klassiker gehört in kundige Sammlerhand und darf sich dann auf sommerlichen Old – und Youngtimerveranstaltungen bestaunen lassen.
Die Adresse des Anbieters ist dem Auto bekannt. Nachfragen gerne per Mail (siehe Impressum)